Münchner Märchen nachts in der Kirche

Thomas Koch von den Lesefüchsen sah dem netten Herrn auf der Einla­dungs­karte der Jesui­ten­kirche St. Michael noch am ähnlichsten: Weiße Haare, weißer Bart, Brille und ein dickes Buch in den Händen. So saß er am Abend des Bundes­weiten Vorle­setags vor dem goldver­zierten Altar in einem bequemen Ohren­sessel. Draußen war es längst dunkel und ziemlich kalt, als der Vorle­se­abend begann. Ein bisschen aufwärmen an einer Feuer­schale im Hof hinter dem Kirchenbau konnten sich 35 Kinder noch bevor sie zu einem Pizza-Imbiß gebeten wurden. Dann ging es geführt von Pater Martin Stark einfach durch die Sakristei ins Kirchen­schiff der Renais­sance­kirche aus dem späten 16. Jahrhundert. Auf der Fläche des Hochchores, sechs Stufen höher gelegen als die normalen Kirchen­bänke, waren Filztep­piche ausge­rollt. Darauf lagerten sich die Kinder, in Decken gehüllt oder im eigenen Schlafsack, sodass sie nichts von der kalten Gruft unten­drunter mitbe­kamen, in der Märchen­könig Ludwig II. aufge­bahrt liegt.

Sechs Vorleser*innen wechselten sich ab (Christel Günther, Tom Koch, Prisca Kranz, Michaela Hanauer-Dietmaier von den Lesefüchsen und Inge Höpfl von der Kirchen­ge­meinde und Pater Martin Stark) und immer wieder erklangen ihre Stimmen aus ganz anderen Bereichen der Kirche. Sie alle lasen aus dem bekannten Münchner Märchenbuch von Michaela Hanauer-Dietmaier und Barbara van den Speulenhof. Mal ging es um den Kampf von Erzengel Michael mit Luzifer. Dann wieder ganz profan um einen reichen Speku­lanten vom Prome­na­de­platz, der verflucht wurde und zusehen musste, wie die Ratten sein Getreide wegfraßen. Und als es an die Gespens­ter­ge­schichte ging, rasselte und brummte es geheim­nisvoll und dunkel von der Orgel her. Zum Schluss gegen 22 Uhr sangen Kinder mit den wieder hinzu­ge­kom­menen Eltern gemeinsam “Weißt du, wie viel Sternlein stehen”. Anschließend wurden sie mit einem gemein­samen Gebet in die Nacht verab­schiedet. Und von der Orgel erklang das alte Münchner Schäffler-Lied “Aber heit is koid, aber heit is koid …”.

(hpm)