Lydia - ein außergewöhnliches Mädchen aus Estland

Details

Autor: Kätlin Kaldmaa

Illustrator: Jaan Rõõmus

Verlag: Baobab Books 2022

ISBN: 978–3‑907277–15‑7

empfohlen von: Annegret Hillinger

in der Stadtbibliothek: Motorama

zu finden im Interessenkreis: Kinder / Städte Länder 

unter der Signatur: Elp 1 KOI/KAL

Auf dem Bucheinband lugt ein Mädchen im Halbprofil hinter einem halbge­öff­neten Vorhang hervor. So als würde es uns zurufen: „Vorhang auf für meine Geschichte!“. Es ist die Geschichte von Lydia Jannsen aus Estland. Unter ihrem späteren Künst­ler­namen kennt sie in Estland jedes Kind, denn ihre Lieder werden noch heute gesungen.

Estland ist sicher für die meisten von uns ein immer noch sehr unbekanntes Land. Da bietet es sich an, zunächst dieses Estland auf einer gleich im ersten Kapitel abgebil­deten Landkarte zu suchen und sich mit seiner Geschichte vertraut zu machen. Ein Einfüh­rungstext über Lydia, ihre Familie und Estland infor­miert uns über den schwie­rigen Weg, bis alle Esten ihre eigene Sprache sprechen, lesen und schreiben durften.

Für dieses Rechte setzten sich besonders Lydia und ihr Vater ein, der die erste Tages­zeitung in estni­scher Sprache gründete. Diese Zeitung gibt es noch heute. Lydias Leiden­schaft galt schon von Kindes­beinen an der Sprache, den Wörtern, den Geschichten und Gedichten. Zu Hause sprachen sie estnisch. Ihre Mutter hatte ihr auch Deutsch beigebracht, denn das sprachen damals alle gebil­deten Leute. Aber offiziell sollten alle Esten eigentlich Russisch sprechen, auch wenn die Sprache der Menschen, die schon seit Jahrhun­derten hier lebten, Estnisch war. Später lernte sie auch noch Finnisch.

Mit vierzehn Jahren hilft Lydia schon ihrem Vater in der Redaktion seiner Zeitung. Als sie siebzehn ist, erscheint in der Zeitung ihre erste Erzählung. Sie besteht den Schul­ab­schluss mit Bravour. Leider darf sie nicht studieren, weil Frauen an der Univer­sität damals nicht zugelassen sind. So wird sie Lehrerin. Sie übernimmt zentrale Aufgaben in der Zeitungs­re­daktion. Sie hat nun schon zwei Gedicht­bände veröf­fent­licht und nimmt den Künst­ler­namen „Koidula“ an. Für das erste estnische Sängerfest, das ihr Vater ins Leben gerufen hat, hat sie Lieder­texte verfasst. Eines dieser Lieder wird später die Natio­nal­hymne Estlands.

Sie heiratet einen letti­schen Arzt, übersiedelt mit ihm nach Kronstadt in Russland, wo er eine Stelle als Militärarzt bekommen hat. Sie bekommt zwei Kinder, begleitet ihren Mann auf einer fast zweijäh­rigen Reise durch Europa. Ihr drittes Kind wird in Wien geboren und ihr erstes Kind stirbt mit vier Jahren. 1886 stirbt sie selbst mit nur mit 42 Jahren an Krebs. Ihr Wunsch, nach Estland zurück­zu­kehren, ging nicht in Erfüllung.

Und noch immer müssen die Esten um ihre Freiheit kämpfen. Am 23.08.1989 bildeten zwei Millionen Menschen eine Kette von 600 Kilometern, um singend für ihre Unabhän­gigkeit einzu­stehen. Lydia hätte das sicher sehr gefallen. Seit der Unabhän­gigkeit und der Zugehö­rigkeit zur EU werden ihre Lieder weiterhin häufig gesungen. Ihre Gedichte stehen in den estni­schen Schul­bü­chern. So kann man auch mit Sprache und Gesang erfolg­reich für die Freiheit kämpfen. Der Übersetzer Maximilian Murmann fasst in einem Nachwort die bewegende Geschichte Estlands für uns nochmals zusammen. Den Lebenslauf von Lydia Koidula können wir in einer Zeittafel übersichtlich nachvollziehen.

Sehr reizvoll ist der Wechsel der Erzähl­arten, mal Dialoge, mal Berichte und Nacher­zäh­lungen, durch­setzt mit Gedichten von Lydia Koidula. Das Kapitel über die Sternen­bilder hat es mir besonders angetan. Auch wenn die Namen der Stern­bilder in Estnisch angegeben sind, dürfte das für manchen kleinen Sternen­gucker ein Anreiz sein, die deutschen Namen herauszufinden.

Und die Illus­tra­tionen von Jaan Rõõmus in dunkel­blauen, roten und weißen Farben, kräftig und zugleich zart, unter­malen diese Geschichte geradezu liebevoll. Dennoch: für Acht- und Neunjährige ist es ein anspruchs­volles Buch, auch wenn Texte der einzelnen Kapitel nicht überlang sind.

Für ältere Kinder und Jugend­liche aber eine lesens­werte Lebens­ge­schichte nicht nur eines außer­ge­wöhn­lichen Mädchens, sondern auch einer wirklich bemer­kens­werten Frau, die gezeigt hat, was Sprache vermag und wie wichtig Sprachen sind. „Mein Herz ist auf der ganzen Welt verteilt“, antwortet sie ihren Kindern auf die Frage, wo ihr Herz zu Hause sei.