Details
Autor: Micaela Chirif
Illustrator: Armando Fonseca; Amanda Mijangos; Juan Palomino
Verlag: Baobab Books 2022
ISBN: 978–3‑907277–11‑9
empfohlen von: Annegret Hillinger
„Das Meer ist weit, das Meer ist blau“, wusste schon Heinz Erhardt. Und so verlaufen auch auf dem Einband des Buches „Das Meer“ unterschiedliche blauen Linien, mal gewellt, mal gezackt, dann wieder wie ein Strich, manchmal mit Klecksen wie von zerlaufener Tinte auf Löschpapier. Diese Linien setzen sich im Buch fort als Rinnsal, an dem ein Mädchen in einem bunt gepunkteten Pulli mit einem Stöckchen spielt. Später wird’s ein Fluss, mal schmal, mal breit, bis das blaue Band irgendwann in einem blauen Meer mündet.
Man sieht die Weite des Meeres und seine Bewohner: Fische ohne Gepäck, die von einem Land zum anderen und von einer Sprache zur anderen schwimmen; ein Oktopus, der schläft und im Schlaf die Farbe wechselt; ein dicker großer Wal, der mit seinem Fischmaul ein Boot mit einem Fischer darin anhebt. Der Fischer hat wohl keine Angst, Wal und Fischer begrüßen sich. Und ganz märchenhaft grüßt eine singende Meerjungfrau die Fische.
Alle diese Wesen fängt die Peruanerin Micaela Chirif in poetischen Texten ein, hervorragend übersetzt von Jochen Weber. (Zum Vergleich habe ich mir extra eine paar Texte der Autorin in Spanisch besorgt.) Die kurzen Texte lesen sich wie Gedichte, jedoch ohne Reim. Durch Wiederholung von Wörtern entsteht ein Rhythmus, der sich Kindern sicher einprägt.
Wie Michael Stavarič in seinen Büchern über Meeresgetier wirft auch Micaela Chirif zuerst einen Blick zum Himmel, der sich über dem Meer wölbt. Die Sterne am Himmel haben keine Adresse, kein Fahrrad und kein Telefon, sogar keinen Namen, bis ihnen jemand einen gibt. Unter einer Sternenleiter und fantasievoll geformten Sternenbilder ruht der Fischer in seinem Boot, das einer Nussschale gleicht. Die Wolken ziehen hoch über dem Kopf des Fischers hinweg.
Die Wolken sehen aus wie ein Traktor, wie ein Schuh, wie ein Vogel … Sie fallen nicht herunter, sie regnen Millionen von Tropfen auf den Hut des Fischers. Woran denkt der Fischer? Er ist allein mitten auf dem Meer. Das Meer, das nicht schläft, schläft im Herzen des Fischers. Das Mädchen mit dem Punktepulli tippt mit der Fußspitze ins Wasser. Andere Kinder spielen am Strand mit Muscheln und Seesternen.
Die zarten, oftmals philosophischen Texte der Autorin werden passend umrahmt von den Zeichnungen einer Künstlerin und zwei Künstlern aus Mexiko. Manche Bilder erinnern in ihrer Schlichtheit an Kinderzeichnungen, wie das Boot und der Fischer selbst – nur wenige Striche mit Tusche. Oder auch die Vögel, einfach ein Strich, zwei Flügel rechts und links. Bis man in einem Schwarm noch eine Fledermaus entdeckt.
Dann wieder sind die Bilder kunstvolle Grafiken wie das Netz, das der Fischer auswirft. Prall gefüllt holt er es ein. Fische sind detailgetreu oder kindlich einfach dargestellt.
Ein wunderschönes Bild voller Ruhe zeigt den Fischer im Boot, während das Mädchen – vielleicht mit dem Namen Rachel wie im Flussgedicht – auf einer Bootsecke balanciert. Der rote Zackenbarsch vom Bucheinband kommt geschwommen, die Meerjungfrau schwimmt in den Wolken oder im See, denn es gibt noch einen dicken Fisch und einen großen Krebs und einen Vogel, der dahinfliegt.
Ganz anders die Landtiere, die das Ufer des Flusses bevölkern: langarmige Affen, Krokodile, ein Gürteltier, ein Jaguar und ein Tiger, der das Meer nicht kennt, aber am Fluss trinkt und sich fragt, wo der Fluss anhalten wird.
Ein wunderbares Buch, das träumen lässt. Wir sollten uns wie das Mädchen auf dem Titelblatt eine große Muschel ans Ohr halten und die Augen schließen und in das Meer der Träume eintauchen.